Heinz Cibulka   fotografische arbeiten / photographic works interdizipinäre arbeiten / interdisciplinary work digitale bildcollagen / digital collages publikationen / publications texte / texts biografie / biography

... texte | texts

|| menu ||

 


Carl Aigner

Stadt-Bilder

Zur Imago-logie urbaner Visibilitäten

 

in: Wien - Floridsdorf-Donaustadt, 1988



Die Stadt ist die Summe
ihrer Wahrnehmbarkeiten.
(E. Warlamis)

So kann man sagen, daß die
Fotografie den disziplinierenden
Blick materialistiert . . .
(R.Matz)

Ob wir wollen oder nicht, bewußt oder unbewußt, "machen" wir uns (immer) Bilder über/von eine/r Stadt, wobei dieser Prozeß permanent in und um uns abläuft. Egal, ob wir eine Stadt "real" gesehen haben oder nicht, verfügen wir über ein mehr oder weniger großes abrufbares Set an gespeicherten Bildern von ihr. Doch wenn wir versuchen, deren Herkuft zu eruieren, entzieht sich dies fast immer einer exakten Ordnung.

Schon diese Tatsache läßt uns erahnen, welchen komplexen Vorgängen wir ausgesetzt sind, wenn wir uns "ein Bild von etwas" machen. Obwohl die modernen Humanwissenschaften/Sozialwisschenschaften eine Reihe von faszinierenden Ergebnissen der Urbanismusforschung vorlegen können, ist bislang dem Moment der Visibilitäten, des Pikturalen in diesem Zusammenhang bis auf wenige Ausnahmen (etwa die ästhetischen Debatten über Stadtarchitektur oder die sog. Stadtbildpflege hinsichtlich Denkmalschutz) kaum Aufmerksamheit gezollt worden.

Die Bedeutung der "Image-Bildung" einer Stadt ist heute eine gängige Formel geworden, sowohl bei Stadtpolitikern, Werbeagenturen als auch bei Touristen. Doch wie bilden sich bestimmte urbane "Images"? Wie entstehen spezifische (visuelle) Impressionen in urbanen Seh-Räumen? Welches sind die konstitutiven Faktoren für diese imagologischen Prozesse?

Ohne hier ausführlicher auf eine Geschichte und Theorie der Perzeption eingehen zu können, muß sie dennoch für eine mögliche Reflexion zur Stadt-Wahrnehmung einbezogen werden. Zweifellos spielt die sozio-historische Akkulturation eine prägende Rolle (ob wir in einer Stadt aufgewachsen sind oder nicht; in welchen "Bezirken" etc.). Gehen wir vom Konzept visueller Module, Bausteine aus, so werden via Akkulturationen die personalen Module des Sehens geschaffen, die wahrnehmungspsychologischen und mentalen Basen also. Sie sind es auch, die unsere non-intentionalen Stadt-Bilder formen, die wir zum Großteil über den Weg des Latenten, Klandestinen gewinnen. Spätestens seit S. Freud ist uns die Bedeutung des Unbewußten auch im Wahrnehmungsprozeß bewußt geworden: nicht nur rationale Momente bestimmen etwa die Selektivität unserer Blicke auf eine Stadt (Sehnsüchte, Begehren, Nöte, Freude sind enorme Wahrnehmungsmotoren für unsere alltäglichen Stadt-Bilder, die wir uns unentwegt schaffen). Darüber hinaus kommt hier auch das Moment des Kollektiven ins Spiel: Die Produktion urbaner Bilder entzieht sich (uns) allein schon deswegen jedweder unmittelbaren rationalen Zugriffsmöglickeit, weil sie sozio-kulturale (und natürlich historio-kulturale) Kollektiv-Emanationen darstellen, das also, was wir in der photographischen Metaphorik als latentes Bild bezeichnen, welches einer aktuellen "Entwicklung" bedarf, um es sichtbar werden zu lassen.

Es zeigt sich damit auch, daß wir "Wirklichkeiten" niemals pur, unschuldig sehen können, daß eine Wahrnehmung niemals eine simple "Wahr-Nehmung" sein kann. Spätestens seit der Psychoanalyse und der modernen Linguistik (und gegenwärtig der Gehirnforschung, die von intrinsischen, mentalen Bildern spricht) sind wir auf die unbewußten imaginären Formationen vieler kulturaler Äußerungen aufmerksam geworden, denen auch Blicke erliegen (können).

Die Perzeption läßt sich so auch als ein dialektisches Spiel von intrinsischen und extrinsischen Wahrnehmungsakten definieren. Das Sehen wird also auch von materiellen Gegebenheiten nicht nur geprägt, sondern regelrecht erschaffen. Gerade die Stadt kann seit dem 19. Jahrhundert als Ort visueller Revolutionen gesehen werden, die durch neue Materialitäten ausgelöst wurden/werden: es besteht ein dezisiver Unterschied, ob jemand eine Stadt mittels Fußwandern erblickt oder mittels U-Bahn. Die Wahrnehmbarkeiten urbaner Räume werden als durch vorhandene Verkehrsmittel ebenso mitbestimmt wie etwa durch das Vermögen, einen Stadtplan lesen zu können oder duch den Umstand, eine Stadt von oben sehen zu können (was im wesentlichen erst seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich ist). Es ließen sich noch beliebig weitere materielle Momente für eine urbane Geschichte des Sehens anführen (z.B. generell die Stadtplanung), anhand derer wir die Konstituierung von Stadt-Bildern approximativ nachzeichnen können - womit wir bei den intentionalen Aspekten derselben sind.

Wir alle kennen aus eigener Erfahrung intentionale Stadtbesichtigungen, Stadtwahrnehmungen, seien es sog. Sehenswürdigkeiten oder kommerzielle Interessen, die wir in einer Stadt realisieren. Wird eine intentionale Besichtigung also von unseren bewußten Interessen gelenkt, so ist diese wiederum auch abhängig von der Autorepräsentation einer Stadt selbst. Gemeint ist damit die historische, soziale, kulturelle etc. Selbstdarstellung, wie wir sie vor allem aus Fremdenverkehrsprospekten kennen: gewissermaßen der Versuch, ein ideales Stadt-Imago zu suggerieren. Hier kommen wir in Zonen dessen, was (im doppeltem Sinne des Wortes) als vorgesehene Wahrnehmung bezeichnet werden kann. Entgegen gängiger Annahmen gibt es eine immense Kontrolle von Visibilitäten, eine ständig präsente Domestizierung unserer Blicke, die die Disponibilität von Erblickbarkeiten ständig zu beherrschen versucht (und sich entsprechend modernen Machtstrategeme unbemerkt vollzieht, eben klandestin). Die Verzahnung von intentionalen und non-intentationalen Relais produziert die offiziösen Stadt-Bilder, auf die wir alle mehr oder weniger rekurieren (müssen). Visuelle Aufmerksamkeiten, Interessen, Notwendigkeiten werden so über die Immaterialität des Sehens geregelt (wie eben Module in einem System aufeinander abgestimmt werden, um reibungslos funktionieren zu können). Von hier aus wird die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion über politische Implikationen von Wahrnehmungen ersichtlich . . .

Eine visuelle Stadtarchäologie (ein wenig im Sinne von M. Foucault) könnte uns sicherlich Aufschlußreiches über die Disziplinierung von Stadt-Bildern sowie deren Mechanismen vermitteln. Ziel bestimmter Machtpraxen ist immer auch die Vor-Schreibung bestimmter Wirklichkeiten, d.h. letztendlich auch, denotative Stadt-Bilder zu evozieren, was sich sehr schön mit dem drucktechnischen Terminus Cliché umschreiben läßt: genormte Bilder-Welten und somit Welt-Bilder.

Der Photographie kommt in diesem imagologischen Prozeß der Kreation von Stadt-Bildern eine präjudizierende Funktion seit ihrer Invention als Materialisierung der Blicke zu: wann immer wir versuchen, uns von einer Stadt Bilder abzurufen, sind diese in der Regel photographisch, was einerseits an der spezifischen Ab-Bildungsform der Photographie liegt (die selbst wiederum historisch und nicht natürlich ist), andererseits an ihrer permanenten Präsenz (und damit Verfügbarkeit). Anders formuliert: unsere Stadt-Imaginationen (im doppelten Sinne dieses Wortes) - aber nicht nur diese! - werden seit 150 Jahren (von zumindest einer bestimmten Art) von Photographien kolonisiert, die (scheinbar) offenkundig eine Wirklichkeit quasi-natürlich wiedergibt.

Der photograpische Realistätseffekt resultiert semiologisch aus einer bestimmten Relation von Signifikant (Bedeutendem) und Signifikat (Bedeutetes), nach dem differenzierten Model von L. Hjelmslev Ausdrucksform und Inhaltsform, die wiederum durch die Ausdruckssubstanz und Inhaltssubstanz mitgeformt werden. Dieser semiotische Prozeß läßt im Zuge seiner (methodologischen) Dekonstruktion die Artifizialität und Konstruktion jedweder Wahrnehmung (und auch Photographie) erkennen.

Genau hier setzt auch jede künstlerische Auseinandersetzung mit dem Medium Photographie ein/an: insofern sie ein photographisches Bild als etwas Konstruiertes betrachtet, kann sie ihre subversive Arbeit (als Gegen-Konstruktion) an denotativen Vorgaben beginnen und das konnotative Moment als Polyvalenz freisetzen.

Auf ihm eigene Weise versucht H. Cibulka, das polyvalente Potential in seinen photograpischen Stadt-Bildkonzeptionen wirksam werden zu lassen. Die einzelne Photographie ist für ihn gewissermaßen Rohmaterial, ein visueller Fund (er fällt sozusagen nicht auf den vordergründigen Realistäseffekt des photographischen Bildes herein), den er in einem weiteren Restrukturations- und Konstruktiosprozeß zu "seinen" Stadt-Bildern formt. Cibulka bedient sich dabei vor allem der Methode der Assoziativität: "Der assoziative Charakter der Arbeit bleibt ein Rahmen, ein Angebot von Bildern, daß vom Betrachter nachgestalterisch aufgenommen und verarbeitet werden kann". Das Assoziative ist dabei nicht mit Willkürlichkeit zu verwechseln (wie es in surrealistischen Banalitäten oft feststellbar ist); Cibulka ist sich bewußt, daß auch die Assoziativität ihren eigenen Regeln folgt. Diese konstruktiv aufzuarbeiten, umzu-bilden ist seine künstlerische Intention, die auch als kreative Vernetzung von photographischen Bildern beschrieben werden kann (der sich der Betrachter allerdings stellen muß, um einen adäquaten Zugang zu finden).

Die Entschlüsselung und Neu- oder Konterverschlüsselung durch die Kunst besteht kraft fortdauernder und -währender Prozesse der Neumontage von in und aus der Wirklichkeit gewonnenen (oder bezogenen), aus ihr gespeisten Signifikanten, die im freien Spiel sind, und die dadurch virutell das Freie gewinnen, schrieb der Semiologe und Romancier G. Schmid einmal - die Arbeiten von Cibulka können als Realisation dieser Überlegungen interpretiert werden, ihre poetische Subversivität läßt sich allerdings nicht ohne weiteres herausdestillieren. Dies bedarf einer subtilen und selbst wiederum kreativen Lektüre, genauer: Vistüre, ansonsten man/frau an der "Fassade" der Photographie hängenbleibt, auf diese hereinfällt (aber wann ist die künstlerische Qualität einer Arbeit jemals schon offenkundig, offensichtlich?) Vielmehr ist jedem Kunstwerk immanent, daß es einer diffizilen Decodierung bedarf, im Fall der künstlerischen Photographie einer intensiven Seh-Arbeit, um neue Seh-Ufer gewinnen zu können . . .


| top |