Heinz Cibulka
Wien Floridsdorf-Donaustadt
in: Wien - Floridsdorf-Donaustadt, 1988
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Das Unternehmen eines fotografischen Protraits der Stadt Wien hatte mit Bildgeschichten zur Inneren Stadt einen Anfang gefunden. Beim nächsten Schritt befaßte ich mich mit den beiden, östlich der Donau gelegenen Bezirken Floridsdorf und Donaustadt. Alte Ortsnamen erinnern an die Vielzahl kleinerer und später zum Teil größerer Ansiedlungen in diesem Stadtteil. Jedlesee, Strebersdorf, Jedlersdorf, Leopoldau, Stammersdorf, Donaufeld, Floridsdorf, Kagran, Hirschstetten, Stadlau, Aspern. Bei aller Unterschiedlichkeit jeweiliger Ortschaftsschicksale gibt es Ähnlichkeiten, die aus der geografischen Lage herrühren.
Bis zur Donauregulierung 1870-75 war das nordwestliche Ende des Marchfeldes am Ausgang der Wiener Pforte nicht nur von den damals üblichen Katastrophen geplagt, wie Pest, Cholera, Überfälle, Kriege, Brände . . . besonders die immer wieder verheerenden Hochwasser und Überschwemmungen verhinderten raschere Ortsentwicklungen und eine frühere Anbindung an das Wiener Stadtgebiet.
Die Allerheyligen Gieß 1787.
Von der großen Überschwemmung 1787 der Donau ist nothwendig zu beschreiben um die Gemeinde vor Schatten zu warnen. Im Jahre 1787 den 29ten Oktober hat die Donau so gewaltig angefangen zu gießen, daß das Wasser bis 1ten November in Aller-Heyligen-Tag die vollständige Höhe hat erreicht un so ein Entsetzlich große Wasser-Gieß gewesen, welches bey Manns Getenken ist nicht erhörrt worden.
Erstlich hat die ganze Gemeinde allen Fleyß angewendet, bey den dermahligen Unterthan Michel Ottensteiner in Nr. 1, wie auch bey den dermahligen Schneider Häusl Eva Fellnerin (heute Leopoldauer Platz 90) und absonderlich bey den dermahligen Unterthan Josef König (heute Leopoldauer Platz 89) da ist es am gefährlichsten gewesen, dieweil gemeldter König, den Graben und Tam welcher den hinteren Teil von seinem Hauß amfanget imer ernietreget und abgegraben hat, welches ihme König ist zwar öfters verbothen und betroht worden, wenn ein großer Wasser-Gieß wird entstehen, so wird die gantze Gemeinde großen Schaden dadurch leyden müssen, aber der König war imer boshaft und hartnäckig und hat nichts geachtet, bis er selbst und die gantze Gemeinde Schaden hat leyden müssen. Dieweil das Waser so gewaltig hat zugenohmen, daß in drei Tagen das ganze Dorf mit den gewaltigen Wasser ist umrunnen gewesen, daß kein Mensch mit Trukenen Fuß aus seinen Hauß hat kumen können, ausgenohmen von den Pfarrhof bis zu den Wirtshaus, da ist das Wasser inwendig in Dorf nicht kumen, aber auswendig um das Dorf hat jeder Nachbar Schanzen miessen, sonst wärr das Wasser mit Gewald 2 u. 3 und noch mehrere Schug (Schuh) in die Scheunen und Häuser hinein gerunen.
Darnach ists in untern Ort wiederum gefährlich worden, weil das Wasser mit Gewalt den 1ten November um 7 Uhr in untern Orth des Dorfes gerrit und in Dorf ist herauf gerunnen, da haben die Leuth zwar bei ihren Gassen Thorren verschanzt so viel es möglich gewesen, aber es hat nicht viel gefruchtet, derweil es einigen hinten, einigen vorn hineingerunnen.
Darnach um 11 Uhr Mittag hat das Wasser den Tahm und Graben bey Josef König abgerissen, obschon anfangs des Wassers vielle Mühe und Fleiß ist angewendet worden, weil aber die neu erst errichtete Schanz keine Festigkeit gehabt hatte, so hat das Wasser erstlich die neu errichtete Schanz weggerissen und nach und nach immer mehr Luft bekumen, daß nicht mehr zu helfen ist gewesen und die Häuser auf der Winter Zeill (Kirchenseite) mit so entsetzlichen Wasser angefüllt daß alle Scheuern, Stallungen und Schüttkasten getränkt und in einer halben Stundt das ganze Dorf mit Wasser ist angefüllt worden.
Auf der Sommer Zeill (Pfarrhofseite) hat das Wasser nicht so stark hereingebrochen, aber es ist ihnen fast auch nicht besser ergangen als auf der Winter Zeill, denn es sind gar wenig Scheuern, Kasten und Stallungen gewesen im ganzen Dorf, wo das Wasser nicht großen Schaden gemacht hat und in niederigen Häusern das Wasser bis 4 und 5 und mehrere Schug ist gewesen, und fast wenig Unterschütt hat finden können im ganzen Dorf und fast alle Häuser in ihren Gebäuden großen Schaden erlitten haben und auch viel Vieh, Schwein, Anten, Gänße und Hühner und dergleichen Vieh ersoffen und von umgefallenem Gebäu sind erschlagen worden, weil fast kein Haus ist unbeschädigt verblieben und einige Häuser fast ganz umgefallen sind.
Dieses ist der Gemeinde zu einer Warnung und Angetenken in das Protokoll eingetragen worden, um vor großen Unglück zu warnen, daß die Gemeinde jemer (immer) auf diese Graben und Tahm um das ganze Dorf herum, eine genaue Aufsicht hat, damit dieser Graben oder Tahm jmer sollen erhöht werden und niemals in Vergessenheit kumen lassen, weilen durch diese Wasser Tahm kann viel Unglück verhütet werden.
Mit diesem historischen Textzitat möchte ich auch auf das inhaltreiche Buch "Heimat Floridsdorf" (R. Hinkel und B. Sykora) hinweisen. Ich habe daraus für diese Arbeit und zum besseren Verständnis dieser Zone viele Informationen und Einsichten gewinnen können.
Bei desem Zyklus habe ich sehr wenige Bildzitate aus der Geschichte eingesetzt. Das Erscheinungsbild der Gegenwart sollte in Erinnerungsdokumenten, in dem Fall mit Fotografien aus der Zeit dargestellt werden. Das Bild seiner Zeit trägt jeder, in mehr oder weniger vager oder präziser Form in sich. Diesen Bilderspeicher will ich mit diesen Bildgedichten ansprechen bzw. anzapfen.
Ein Auszug aus dem Gesamtplan zur Erfassung des Themenkomplexes WIEN bestand in dem Teil Floridsdorf-Donaustadt aus den angeführten Hauptprogrammpunkten:
Geografische Lage, Architektur, Städtische Formen, Handel, Ethnische Eigenheiten, Sport, Verletzbarkeit und soziale Versorgung, Gemütlichkeit, Ordnungsinn. Dazu erscheinen quer duch die Arbeit Bilder eines vier- bis siebenjährigen Mädchens. Die meisten Blätter zeigen Motive von Arbeitsplätzen aus ansässigen Industriebetrieben und Handelsfirmen.
Bei der Themenanalyse, bei Beachtung des Typischen und Eigenen des Anschauungsortes war es notwendig, das Thema vorerst einmal schriftsprachlich zu ordnen.
2 Wohn-, Arbeits- und Erholungsbezirke, ein Stadtteil und zugleich eine Landschaft, seine Bewohner und seine Benützer, deren und meine Anschauungen standen in einem Spannungsverhältnis. Die daraus gewonnene Neugierde und Energie sollte durch das Thema treibende Kraft sein. Ich wollte mir in vielen fotografischen Ermittlungsschritten ein Bild von diesen Bezirken machen.
Gedankliches und sinnliches Nachspüren hinter thematischen Aufgabenzweigen sollte sich zuerst am Papier zu einem Arbeitsplan verdichten. Danach konnte fotografiert werden.
Mit der Kamara in der Hand hat der Gesichtssinn jetzt eine Auseinandersetzung mit Konkretem. Die Übersetzungsaktivität mit schriftsprachlichen Mitteln wird abgelöst von visuellen Verarbeitungsmechanismen.
Das Arbeitsprogramm im Kopf hat nun praktisch ins Fotografische hin erfüllt zu werden.
Beim Ausschwärmen mit der Kamera, bei direkter sinnlicher Gegenüberstellung mit konkreten Objekten des Themas hat die spontane Erfassung visueller Phänomene Vorrang vor lediglicher Erfüllung eines Arbeitsplanes. Entwickelte Empfindsamkeit auf optische Reize hin soll in schwelgerische Schaulust münden.
Ein Übersetzungsprozeß beginnt. Vorausgedachte Themendetails sollen in die Tat umgesetzt werden. Was gedacht war, soll jetzt empfunden werden. Das Aufgespürte, die empfundene Wirklichkeit soll über das Wahrnehmungssystem zu künstlerischer Äußerung umgeleitet werden.
Die thematisch orientierte Suche führt in den Anschauungskomplex hinein. Dreidimensionale Wirklichkeit soll nun auszugsweise in zweidimensionale Bilder umgelegt werden. Das Denken in Bildern soll zum Schauen in Bildern werden. Punktweise wird der Anschauungsort fotografisch abgetastet. Nach dem Fotografieren und Sammeln von Fotos zum Thema sättigt sich mehr und mehr auch das Wissen um die Sachlage. Die gewonnenen Bilder sind jetzt, unabhängig von ihrem Erinnerungswert und ihrer technischen oder sonstigen Qualität Gegebenheit und einzige Basis der Arbeit mit Fotografien im bilddichterischen Sinn.
Hier trennt sich, im ganzen gesehen, die Auseinandersetzung mit dem Thema. Nach theoretischer und gefühlsmäßiger Einfühlung verstehen wir das Aufnehmen der mehrdimensionalen Wirklichkeit in der Tätigkeit des Fotografierens als ersten Schritt der Arbeit. Dabei wird für den nächsten Schritt, das "Dichten in Bildern" Vorarbeit geleistet. Abstrahierendes Schauen in Bildern leitet zur Auseinandersetzung mit zweidimensionalen Qualitäten hin.
Trotzdem ist das Fotografieren ein Umgang in einer mehrdimensionalen Welt, die alle Sinne anspricht, auf eine ganz enge Ebene hin Qualität gezogen. Das Ergebins, ein Foto, ein Erinnerungsdokument, hat Stellvertretungscharakter.
Jedes Foto ist ein Zeichen, das verstanden werden kann, das über das Erinnerungsvermögen nach Ähnlichem, Bekanntem abgetastet, in Form, Farbe, Größe verglichen, Gefahr oder Genuß verkündend, assoziationsträchtig im Raum schwebt.
Erst Erklärungen, Bezeichnungen, Wertungen der Eindrücke zerren das amorphe Assoziationsbündel nach einer Seite, geben ihm Schwerkraft, machen es scheinbar klar, zerstören es aber zugunsten einer Aussage.
Je länger ich ein Foto im schwerelosen Zustand, im Unklaren halten kann un eine zweites dazu und noch mehrere, desto voller scheinen mir diese Fotos als verdichtete Zeichen zu strahlen.
Bei der Gestaltung mit Fotos habe ich ohne die Aura des abgebildeten Objektes auszukommen, obwohl dies einen großen Teil der wahrnehmbaren Existenz desselben ausmacht. Der Geruch, die typische Bewegung, der Standort, die Körperhaftigkeit, die Eigengeräusche, die Veränderungsfähigkeit, die Konsistenz . . . das Wissen um die Aura dieses Objektes schwingt bei der Objektmitteilung mit, soferne es dem Rezipienten bekannt ist. Je besser ein fotografisches Bild von einer bekannten Situation berichtet, desto besser wird es im Verband einer Zusammenstellung der Lesbarkeit nützen.
Bei weiteren Schritten dichterischer Auseinandersetzung mit eben diesen Fotos fällt die dreidimensionale Welt in den Bereich der Erinnerung zurück und hat ursächlich mit den Gestaltungsbedingungen nur so viel zu tun, als sich die/der Gestalter/in daran gedanklich gebunden fühlt.
Neben dem Informationswert des Fotos sind das Linien- und Farbenspiel und die spezifische fotografische Struktur der Realität "Fotografie" Basis für die folgende Gestaltungen. Diese Qualitäten, das Typische des jeweils einzelnen Fotos wird registriert und gespeichert. Im Fortgang der Bildersammlung werden diese einzelnen Fotos in immer wieder neuen Zusammenhängen gesehen. So werden diese Fotos als Energiebündel durch verschiedene Kategorien und Ordnungsraster geschleust. Einerseits sollen die Fotos nicht in starren Auslegungs-Käfigen gehalten werden, anderseits müssen sie präsent und abrufbar sein. Sie sollen also zwischen möglichst vielen Bedeutungsebenen schweben, aber trozdem erreichbar bleiben.
Zuerst ein Foto - dann dazu noch eines - so lange, bis so etwas wie ein "Bildgedicht" entstanden ist. Kompositorische Schritte bei der Suche weiterer Fotos in den Zusammenstellungen können nach formalen Ansprüchen, nach inhaltlichen oder irgendwelchen anderen Kriterien erfolgen.
Da es keine Regel für kompositorischen Aufbau gibt, entsteht jedes Blatt in der Hoffnung auf dichterische Intensität. Je mehr nach logisch durchschaubaren Ideen gearbeitet wird, desto schwieriger ist es im allgemeinen, schöpferische Qualität im Bild zu binden. Wobei zu sagen ist, daß serielle Reihungen und verhaltensforscherische Reihenuntersuchungen sehr wohl ihren Reiz haben können.
Bewußter Einsatz von Fotografien in Bildgestaltungen erfordert grundlegende Auseinandersetzung mit Wertmaßen und Vorurteilen fotografischer Qualitäten.
Diese Art "Fotografischer Dichtung" strebt formbildende Wirkung im Bilder- und Deutungsreichtum des Betrachters an. Das einzelne Bild, die Objektvermittlung bzw. die Bildform erweckt Gefühle, spricht unterschiedliche Ebenen der Empfindsamkeit an. Gefühlsregungen und Denkvorgänge verflechten und vermählen sich. Durch synästhetische Effekte entsteht Erlebnismehrwert. Der assoziative Charakter der Arbeit bleibt ein Rahmen, ein Angebot von Bildern, das vom Betrachter nachgestalterisch aufgenommen und verarbeitet werden kann.
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