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Marie Röbl

DAS BILDGEDICHT ALS FOTOKÜNSTLERISCHE STRATEGIE

  1. Prägung und Paratext (Einleitung)
  2. Aktion und Reaktion (Fotografie)
  3. Konzept und Kompost (Montage)
  4. Reise, Kulturen, Stadt und Land (Entgrenzung)

 

in: Heinz Cibulka . Im Takt von Hell und Dunkel; 2012



Nach Produktionsprozess und strukturellem Aufbau der Bildgedichte sollen nun die referenziellen Ausgangspunkte der Bildinhalte in der Realität sowie deren spezifische Repräsentation zur Sprache kommen. In Anbetracht der Fülle von rund 65 Bildgedichtzyklen (mit insgesamt zirka 1550 Bildgedichten und über 6000 eingesetzten Aufnahmen), die bislang in vier Jahrzehnten entstanden, ist hier keine Besprechung einzelner Zyklen möglich. Herausgegriffen werden also wichtige Themen- und Motivkomplexe, die Cibulka über mehrere Zyklen verfolgt, sowie einzelne Arbeiten, die für bestimmte Herangehensweisen repräsentativ sind.

Ein Großteil von Cibulkas früheren Bildgedichtzyklen wurde 1983 unter dem Titel Land-Alphabete vorgestellt, mit dem auch hier ein erster Themenkreis angesprochen wird.42 Die meisten Arbeiten dieser Schaffensperiode entstanden in der ländlichen Umgebung Wiens, im Umfeld niederösterreichischer Bauern und Winzer. Cibulka war bereits 1967 von Wien nach Königsbrunn übersiedelt und hatte hier »seine künstlerische Laufbahn mit einer katalogisierenden Spurensuche rund um [s]einen neuen Lebensraum« begonnen.43 In den Bildgedichten, die er etwa sieben Jahre später zu produzieren beginnt, zeigt er allerdings keineswegs einen dokumentarischen Katalog des Landlebens.

Es gibt Schwerpunkte, um die sich Cibulkas Bildmotive in Zyklen wie Reizbarkeit Weinviertel (1975), Bisamberg (1980), Most – fühlt (1981) oder Gemischter Satz (1982) konzentrieren: zum einen Existenzielles, wie er es selbst mit den Schlagworten »Töten, Fressen, Zeugen, Gebären« zusammenfasst,42 in Alltagsszenarien aus Landwirtschaft und Weinbau. Er richtet seinen Blick auf Felder, in Ställe, Kellergassen; auf Tiere als Nutz- und Haustiere, sowie Menschen als in entsprechende Tätigkeiten und Umstände eingebundene.45 Zum anderen verfolgt er das Thema von gemeinschaftlichem Feiern, etwa bei Tanzveranstaltungen, aber vor allem im Ritus der katholischen Liturgie – Erstkommunion, Hochzeit, Erntedankprozession, Begräbnis. In Innenraumaufnahmen zeigt Cibulka Herrgottswinkel und bestimmte Versatzstücke, in Griffnähe oder aus dem Blickwinkel eines eben Hinzutretenden: gedeckte Tische, Kredenzen, Speisen im Emailtopf am Herd oder hellbraunen Kaffee in dickwandigen Schalen.

Besonders Sujets wie riesige Blutlachen, Nahaufnahmen von gebratener Stelze und Kartoffelsuppe, Misthaufen und Matsch, aufgeschlagene Knie, ausblutende Rinder, Feldblumen, eine Discokugel im Halbdunkel oder Blasmusik rufen vielfältige Erinnerungen an Wahrnehmungen und Erlebtes wach – umso mehr, je näher man dem dargestellten Kulturkreis steht. Materialität im Sinne von stofflichen oder taktilen Oberflächen-Werten, die das fotografische Medium in extenso wiedergeben könnte, wird dabei nicht vorgeführt, sondern umfassender ausgespielt:46 eingebunden in zweckgebundene Berührung und Handlung, in ein »einfaches Leben«, das Kultur als Kultivierung von Natur versteht und mit religiöser Praxis in selbstverständlichem Zusammenhang steht. Darunter finden sich auch Bilder, die am Rande dieser »naturgegebenen« Zweckgebundenheit stehen und primär Stimmungen transportieren: Abendlandschaften bei untergehender Sonne oder lachende Mädchen, die zu dritt auf einem Mofa durchs Bild brausen.

Die Land-Alphabete lassen sich als Kompendium von Grundelementen eines geglückten Lebens verstehen. Dass dabei weder ein dokumentaristischer noch ein subjektivistischer Zugang erfolgt, wurde bereits anhand der vorhergehenden Kapitel zu Cibulkas Bildsprache und -organisation ausgeführt. Dies wird aber auch durch die Motivwahl deutlich, bei der Cibulka bestimmte Aspekte bewusst ausklammert.47 Sein dezidiertes Interesse an einer »meinungsfreien« Darstellung zeigt das Landleben gleichsam als eine zeitlose Utopie, nicht als ein psychologisch, soziologisch oder politisch zu analysierendes Faktum.48 Dabei ist Cibulkas Bild(poetik) des Landlebens – nach Georg F. Schwarzbauer eine Metapher für das Unverdorbene und Ursprüngliche – selbst auch von seinem (ihrem) historischen Entstehungskontext geprägt. Dies ist zu betonen, zumal sich im Verlauf von mehreren Jahrzehnten Patina über diese fotografisch gefasste Bildwelt gelegt hat.

Wie Peter Zawrel 1993 deutlich machte, entstehen Cibulkas frühe Bildgedichte in einer spezifischen Phase der sich historisch wandelnden Perspektiven auf das Land, die immer schon in Relation zum Gegenpol Stadt entwickelt wurden. Diese Phase bildet den Übergang zwischen zwei markanten Auffassungen: zum einen die unmittelbare Nachkriegszeit, als der Blick auf das Land in seiner Prägung durch Nationalsozialismus und Faschismus noch präsent und das Bauernleben als Thema und Mythos daher (jedenfalls in der Kunst) diskreditiert war. Zum anderen die später einsetzende Phase, als das Landleben im Kontext einer breiten ökologischen Bewegung wieder entdeckt und positiv besetzt wurde. Cibulkas Zugang wurzelt vor Letzterer, als noch »die unkomplizierte Üppigkeit des Lebens auf dem Lande im Vordergrund des Interesses derer [stand], die sich, von Begriffen wie ›ökologisch‹, ›biologisch‹, ›alternativ‹ und ›original‹ noch nicht vereinnahmt, auf dieses begaben um zu genießen, was die wiederaufgebauten Großstädte […] nicht mehr bieten konnten. Von ›Aussteigen‹ konnte keine Rede sein, in all dem war mehr Beatnik als Tolstoi. Es ging nicht um Alternativen, sondern um Ergänzungen.«49

Aufgrund ihrer weitreichenden bzw. in den Achtzigerjahren rezenten Wirksamkeit stehen allerdings beide ideologischen Besetzungen des Landlebens – die nationalsozialistische und die ökologische – im Assoziationsfeld der Rezipienten (gewissermaßen als braune und grüne Schatten) bereit. Dass sich Cibulkas Position hier mutig behaupten muss, wurde bereis 1982 treffend von Reinhard Priessnitz bemerkt.i50 In Cibulkas folgenden Werkphasen wird deutlich, dass sich seine in den Bildgedichten visualisierte Lebensphilosophie aber auch abseits des Landlebens zeigen lässt. Zur Überleitung sei ein Bildgedicht aus dem Zyklus Bisamberg (1980) angesprochen, wo sich dies bereits im Kontext der Land-Alphabete manifestiert.

Hier findet sich das Foto einer Senkgrube, in der Aufnahme rechts daneben ein junger Mann im gestreckten Sprung in einen Schotterteich. Das Bild darunter zeigt den Ausschnitt eines Plakates, in dem eine Frau ein Glas Sekt zum Mund führt, daneben eine Art Riesenrad mit beleuchteten Kabinen vor dem Nachthimmel. In Vernachlässigung der mehrfachen Korrelationen, die zwischen den vier Bausteinen denkbar sind und je bestimmte Konnotationen erlauben, sei lediglich eine Leserichtung angedeutet: Die Cleanness der Reklame wird zum schalen Genussversprechen und das Vergnügen, im Freizeitpark im Kreis gefahren zu werden, relativiert. Dies durch die Konfrontation mit der Jauchegrube, interpretierbar als Metapher für Vergänglichkeit, und dem gewagten Teichsprung, in dem Lebensfreude, Aktivität, Dynamik, Selbstermächtigung lesbar werden – ganz ohne Blut, Wein und Herrgottswinkel.

Im Laufe der Achtzigerjahre beginnt Heinz Cibulka in Städten im In- und Ausland zu fotografieren. Damit lässt sich ein zweiter Themenkreis zusammenfassen, der sich in seinem Bildgedichte-Œuvre bis in die Gegenwart erstreckt, von Wien I (1984), Berlin – Empfindungskomplexe (1985), New York (1985), Rom (1986), Wien II Donaustadt + Floridsdorf (1988), Linz wie Licht (1991), Antwerpen (1991/92), Napoli – n’gopp e cient (1996), w.i.e.n. (2002), bud[apest] (2008/09) bis seoul (2010). Die »Städte-Zyklen« wurden, anders als die im Buch Land-Alphabete zusammengefassten Arbeiten, bisher nie als Gruppe, sondern meist in selbständigen Publikationen veröffentlicht, die mitunter auch lokal-relevante Texte ortskundiger Autoren beinhalten.51

Die obige Auflistung ermöglicht eine Erläuterung von Cibulkas Titelformulierung: Überwiegend handelt es sich um bloße Ortsangaben, wobei die orthografischen Unterschiede Aufschluss darüber geben, ob es sich um analog (korrekte Schreibweise) oder digital (Kleinschreibung) produzierte Bildgedichte handelt. Wenn Zyklustitel über eine Ortsangabe hinausgehen, spielt Cibulkas Begrifflichkeit meist auf empathische oder sensuelle Aspekte von Wahrnehmung an und verweist somit auf konzeptuelle Hintergründe der Bildgedichte (Reizbarkeit, fühlt, Empfindungskomplexe). Im Laufe der Jahre fallen derartige Beifügungen weitgehend weg. Die Zurückhaltung in der Betitelung mag bei einem Künstler überraschen, der auch über ein beachtliches literarisches Œuvre verfügt. Doch gerade deshalb wird darin deutlich, dass Cibulka den Werktitel als Paratext bewusst nur bedingt nutzt.52

In der Betrachtung der Städte-Zyklen zeigt sich Cibulkas Herangehensweise an die von ihm bereisten Orte: Verfolgt wird keineswegs eine systematische, auf einen objektivierenden Vergleich angelegte Dokumentation oder der Anspruch einer umfassenden Behandlung einer jeweiligen Stadt und ihres soziologischen, städtebaulichen Gefüges oder mythosgeladenen Images. Damit wird die Bedeutung eines Zyklustitels wie etwa New York nochmals klar: Es handelt sich nicht um einen beschreibenden Bildtitel (im Sinne von »Das ist New York«), sondern lediglich um eine verortende Bezeichnung (»Bildgedichte aus Fotografien, die in New York aufgenommen wurden«).

Wenn Cibulka »eine Art phänomenologisch orientierte, möglichst meinungsfreie Sicht auf Dinge und Situationen« für sich in Anspruch nimmt, dann heißt das für seine Städte-Zyklen: Er reist ohne Abhandlungen aus Kulturwissenschaft oder Urban Studies im Gepäck, und er analysiert keine Phänomene wie Globalisierung, Disneyfication oder Gentrification – auch wenn manche seiner Bildmotive derartige Assoziationen anregen mögen. Ebenso wenig verfolgt, vermeidet oder kritisiert er die typischen touristischen Pfade. Klassische Sehenswürdigkeiten finden sich kaum, allerdings gibt es in fast jedem Bildgedicht eindeutige Hinweise zur Identifikation der jeweiligen Stadt. Auch hier gilt: Je besser man den Aufnahmeort kennt, desto mehr verblüfft, wie es Cibulka gelingt, Bilder mit einem Stimmungsgehalt aufzunehmen, der mit dem Ort verknüpfte Erinnerungen evoziert. Dabei gibt es eine Reihe an Motiven, die Cibulka an mehreren Orten aufnimmt: zur Bildmitte fluchtende Straßenzüge, Autoverkehr, einzelne Denkmäler und Kunstwerke in Museen, der Blick auf die Kaffeetasse in je verschiedenem Service oder (Passanten-)Paare in Rückenansicht. Weiters auch ortsunspezifische Motive, in denen sich Cibulkas Interesse an existenziellen oder materialsinnlichen Metaphern zeigt, wie Eier, Unfälle, Kinder, Medikamente, auch Schmutz und Verfall.

Im Vergleich mit den Land-Alphabeten werden anhand der Städte-Zyklen bestimmte Erweiterungen in Cibulkas Bildsprache und -motivik deutlich. Zum einen gibt es hier vermehrt Hinweise auf die unterschiedlichen Anlässe und Umstände der Aufnahme bzw. konkreten Reise, wobei diese die Rolle von zurückhaltenden »Nebenhandlungen« spielen und sich einer klaren Identifikation entziehen (Gehört die Packung Antibabypillen Cibulkas Begleitung oder wurde sie im Hotel vorgefunden? Resultiert der Blick in die Kamera aus Bekanntschaft mit dem Fotografen oder handelt es sich um einen spontanen Kontakt?). Zum anderen wird nun die Bildsprache stärker von Stadt zu Stadt variiert. Bestimmte Zyklen werden von einem Grundton beherrscht (Berlin: Grau-Blau, Russland: verwaschenes, rötliches Hellbraun) und mitunter gibt es zyklusspezifische Tendenzen, die an bestimmte fotografische Stile erinnern (Straßenfotografie, Journalismus) oder punktuelle Faibles für fotografische Gestaltungsmittel (Spiegelungen, Durchsichten, Bewegungsunschärfe).

Verfolgt man Cibulkas fotokünstlerisches Schaffen anhand seiner »inhaltlichen« Interessen, lässt sich eine dritte Werkgruppe ausmachen, in der er seine Themen enger fasst. So widmet er sich in Zyklen wie Hochgebirgsquartette (1984/86), Im Pechwald (1986) oder Köflach (1989) und Knittelfeld (1990) spezifischen Kulturlandschaften und dort betriebenen Gewerben: Almwirtschaft und Tourismus im Tauerngebiet, Schwarzkiefernharz-Gewinnung im niederösterreichischen Piestingtal oder Bergbau und Industrie in der Steiermark. Die Themensetzungen erfolgen meist im Kontext von vorgegebenen Projekten, wobei das Zustandekommen solcher Aufträge immer auch ursächlich mit Cibulkas unabhängiger Produktion zusammenhängt.53

Dies trifft auch auf Zyklen zu, die bestimmten Personen gewidmet sind, etwa Günter Brus, Franz West, Hermann Nitsch oder Wolfgang Tunner. Deren Arbeits- und Lebenskontext sind Cibulka seit langem bekannt und meist finden sich auch hier Konvergenzen und Allianzen mit der Bildwelt seiner anderen Zyklen. Dies zeigt einmal mehr, dass die hier vorgenommenen Gruppierungen lediglich einer Orientierung durch das Œuvre dienen, diesem von außen herangetragen sind. Anders gesagt: Die anhand der frühen Zyklen auf dem Land entwickelte Strategie wird konsequent weiterverfolgt, wobei Cibulkas auf »mehrfache Valenz« (Kurt Kaindl) angelegte Bildkonzeption Schwerpunktverlagerungen in der Herangehensweise, stilistische Adaptionen und neue Themenkomplexe ebenso aufnehmen kann, wie sie andererseits die Fortführung bestimmter Aspekte und Leitmotive erlaubt.

Mit dem Topos der Reise sei schließlich ein viertes Leitmotiv Cibulkas benannt. Es manifestiert sich deutlich in den Fernreisen der jüngeren Zeit, in denen er nach einer längeren Pause wieder Bildgedichte, nun in digitaler Form, produziert. Reisetätigkeit als Impuls und pragmatischer Rahmen seiner künstlerischen Arbeit lässt sich aber bis zu Cibulkas Anfängen zurückverfolgen: über seine Touren in österreichische Kulturlandschaften, die internationalen Städte-Zyklen, bis zu den frühen Erkundungsgängen in der Umgebung von Wien. In den Publikationen der beiden Zyklen aus nachbars garten (1995) und chinoiserie (2000) werden dem Abbildungsteil Textauszüge aus Cibulkas Reisetagebüchern beigestellt.54 Hier wird greifbar, was sich auch in anderen Zyklen bereits gezeigt hat: Der bildproduzierende Autor »sickert« in Thematik und Motivik der Arbeit ein, tritt dabei allerdings nicht in den Vordergrund (dazu s. Anm. 37, S. X).

An den Aufnahmen lässt sich dies ablesen, wenn etwa der im Text erwähnte Handwagen zum Transport von Cibulkas Gepäck und Kindern auftaucht, letztlich aber vor allem in der Wiedererkennung bestimmter Motive. So entspricht es beispielsweise einer Wiederbegegnung, wenn man in Syrien ein Teeglas griffbereit entdeckt – es steht dort anstelle der Kaffeetasse, die man seit ihrem ersten Auftauchen in Hochzeit (1980) über ihre vielen Varianten mit dem Autor identifiziert hat. Cibulkas Aufmerksamkeit für das Nebensächliche richtet sich in der »Unverwandtheit des ersten Blicks« (Gerhard Roth) keineswegs nur auf Signifikanten der fremden Kultur, wie etwa Hinweistafeln. Ein Ei, eine Handvoll Salz oder Fisch werden erst im Kontext des Viererblocks lokal verortbar. Fragmentarisches, Unschärfen, Leerstellen der Darstellung lassen sich im neuen Kontext neu lesen: in syria (2008) etwa als buchstäbliche Unkenntlichkeit, ein Eingeständnis der Fremdheit, mit dem man sich angesichts des anderen konfrontiert sieht.

Mit dem Motivkreis der Reise ist auch die hier unternommene Wanderung durch das Œuvre von Heinz Cibulkas Bildgedichten zu Ende. Anhand dieser letzten Station wurde deutlich: Je weiter man weg fährt, das Vertraute hinter sich lässt, umso näher kommt man seinen Wurzeln, seiner kulturellen, existenziellen, individuellen und weltanschaulichen Bedingtheit. Diese Konfrontation kann auch zum Anlass genommen werden, sich ins Ungefähre zu wagen, sich der Unverrückbarkeit von Grenzen zu stellen.

Es ist Cibulkas Materialorganisation in der Struktur von Bildgedichten und Zyklen, die die unterschiedlichen (inhaltlichen, bildsprachlichen) Tendenzen innerhalb einer Einheit in einem subtilen Gleichgewicht hält. Gleichzeitig vermitteln verschiedene Stränge zwischen den Gedichten eines Zyklus und verweisen auch auf andere Zyklen und Werkgruppen (Objektbilder, Performances, Gedichte, Materialsammlungen). Dergestalt eröffnen sich vielfältige Zu- und Ausgänge. Durch flexibel verschaltbare Verbindungen kann vieles mit vielem in Beziehung treten. Dementsprechend widersetzt sich Cibulkas Werk einer strengen Gliederung oder Periodisierung. Zur Beschreibung des Gesamtkorpus der Bildgedichte scheint daher eine rhizomatische Figur naheliegender als eine linear-chronologische Entwicklungslinie mit einer Abfolge von klar trennbaren Phasen und Abzweigungen. Möchte man sein Thema abschließend mit einem Wort fassen, dann beschreibt er nicht weniger als das Leben selbst. Cibulkas Zyklen zeigen die Gegebenheit unseres Daseins weder als souverän-apodiktische Definition, noch als kühle Kritik der Regimes von Welt-Repräsentation oder als verzweifeltes Bild einer haltlosen Subjektivität, sondern: in aktiver, hingebungsvoller Annahme.


42 |    Heinz Cibulka, Fotografische Arbeiten 1969–1983, Wien 1983, erschien zunächst als Softcover-Katalog, wenig später als leinengebundene Buchausgabe in der Edition Christian Brandstätter, in der der Titel um den Begriff Land-Alphabete, der Textteil um einen Beitrag von Georg F. Schwarzbauer [s. Anm. 47] erweitert wurden. Diese wichtige Publikation versammelt 20 bzw. 21 Texte, neben einigen Erstveröffentlichungen auch viele Wiederabdrucke; der Abbildungsteil enthält Auszüge aus 18 Bildgedichtzyklen in chronologischer Ordnung, von Stammersdorf (1975) bis Gemischter Satz I (1982).

43 |    »[…] In Wien, in der Enge und im zwanghaften Reglement einer städtischen Kleinwohnung aufgewachsen, zog es mich sehr früh in eine offenere Landschaft, in freie Felder, die einen weiteren Blick zuließen. Die Offerte sinnlich erfahrbarer Materialen und Zustände sind mir am Land entgegengekommen. Noch weitgehend von künstlerischen Strategien unbesetzte Regionen ließen mir Spielraum zur Erfassung meiner Situation und zur Formulierung meiner Perspektiven.« – Heinz Cibulka, Bilanz 1998, in: Sonderheft, Nr. 4, hrsg. v. Medienwerkstatt Wien, Wien 1998, S. 13–17, hier S. 13.
Der Begriff der »Spurensuche«, den Hermann Nitsch bereits 1977 gebrauchte (s. Anm. 10, S. X), verweist auf eine spezifische Sparte der Konzeptkunst. 1974 hatte Günter Metken den Begriff als Titel einer Ausstellung mit Arbeiten von Christian Boltanski, Claudio Costa, Anne und Patrick Poirier u.a. eingeführt. Typisch für die Kunstpraxis der »Spurensicherung« sind eine Orientierung an Methoden der Kulturgeschichte, Ethnologie und Archäologie sowie das Themenfeld von Identitätssuche und Erinnerungskultur. Cibulkas Arbeitsweise weicht von »Spurensicherung« in diesem Sinne ab, insofern er weder Objektivität, noch Recherche oder historische Reflexion suggeriert und seine Position auch nicht als Konzeptkunst verstanden wissen möchte.

44 |    Heinz Cibulka, Bauernlieder, Linz (edition neue texte) 1981. In diesem Gedichtband, in dem auch Bildgedichte abgebildet sind, betitelt Cibulka seine vier Bauernlieder anhand der genannten Begriffe.

45 |    »Das Wilde, Urwüchsige an der Natur hat Cibulka nie interessiert. Er ist nicht Natur-, sondern Kulturwissenschafter, dem die unkultivierte Natur nichts bedeutet. Als ein zentraler Begriff in der Beschreibung seiner Bilder erweist sich immer wieder der des ›Produktes‹, in dem die kulturelle Bedeutung des Verhältnisses von Mensch und Natur ihren Ausdruck erhält«. – Peter Zawrel, Die Kraft des Materials: Bilder, in: Heinz Cibulka, Bild Material, hrsg. von Peter Zawrel, Kulturabt. des Landes Niederösterreich, Wien 1993, S. 15–18, hier S. 17.

46 |    Der Begriff des Ausspielens verweist darauf, dass Cibulka seine frühen Bildgedichte auch als »Bildquartette« anspricht. Damit beschreibt er treffend die Organisation der Bildbausteine als Spiel (flexible Gestaltung im Rahmen eines vorgegebenen Reglements). Gleichzeitig betont er damit deren Materialcharakter bzw. den Aspekt von Greifbarkeit (sowohl als Facette seiner Bildfindung und -motivik als auch als Eigenschaft der analog produzierten Abzüge, die in den originalen Bildgedichten als aufgeklebte Objekte eingesetzt sind).

47 |    Es ließen sich eine Reihe von signifikanten Phänomenen des Landlebens der Siebziger- und Achtzigerjahre aufzählen, die Cibulka in diesen Zyklen nicht zeigt: Einfamilien-Neubauten, Raiffeisenkassen, Lagerhäuser, Silos, Melkmaschinen, Mähdrescher, Wahlplakate, zeittypische Einrichtungsgegenstände (Wohnlandschaften, Allibert-Spiegelschränke, Filterkaffeemaschinen etc.). Dazu s. auch: »[Diese Bilder zeigen] eine Themenvariation, die zu den Erscheinungsbildern der realen Umgebung im Kontrapost steht. […] Denn das, was sich als die so wichtige poetische Aktualität ausweist und den Betrachter an seine eigenen gespeicherten Erfahrungen erinnert, kann nur deswegen erkannt werden, weil es von der Kraft des Zeitlosen geprägt wird.« – Georg F. Schwarzbauer, Erscheinungsbilder einer Kunstlandschaft. Hinweise zu den »Land-Alphabeten« von Heinz Cibulka, in: Heinz Cibulka, Land-Alphabete, 1983, a.a.O., S. XI–2, hier S. XI.

48 |    »wir suchten zeitlose, große, innige lebensformen und formeln, die ewiger wiederkehr unterlagen […] gemeint ist jetzt die nahrungsaufnahme, das trinken mit der nachfolgenden trunkenheit, die zubereitung von speisen, die auseinandersetzung mit sinnlichen elementarerlebnissen.« – Hermann Nitsch, zur objekt- und aktionskunst von heinz cibulka, in: Heinz Cibulka, Bild Material, 1993, a.a.O., S. 11–13, hier S. 11. »mich interessieren in erster Linie ›freie Gestaltungen‹, […] frei von sogenannten übergeordneten Interessen, wie: Sozialkritik, Brauchtum, Umweltkritik, Zeitkritik, Wirklichkeitskritik, [jedenfalls habe ich] mich eben nicht extra um solche Überordnungen zu kümmern. Sie strahlen auf jeden Fall bei Gelegenheit ein. Im Streben nach möglichst hoher formaler Dichte werden alle anderen Interessen mehr und mehr bedeutungslos.« – Heinz Cibulka, Fotografie – am Beispiel meiner Arbeiten, in: Camera Austria, Nr. 6, 1981, S. 3–9, hier S. 9. »Die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem Unverstellten, nach dem elementaren Leben hoffte Cibulka, auch angeregt durch eine mehrjährige Lektüre taoistischer Schriften, auf dem Land noch (wieder?) zu entdecken.« – Michael Ponstingl, Heinz Cibulkas Präsentationen montierten Sprachmaterials – Zwischen »Kiahdrichln«, »Hollunderblütenversprechungen« und »Eiterpink«, in: Heinz Cibulka, Saft aus Sprache. Abschriften, Notenbild-Verbarien, Freie Reihungen, Texturen 1970–1990, hrsg. v. Michael Ponstingl, St. Pölten 2010, S. 224–238, hier S. 233.

49 |    Peter Zawrel, Die Kraft des Materials: Bilder, 1993, a.a.O., hier S. 16.

50 |    Reinhard Priessnitz, für heinz cibulka, im november 1982, in: Heinz Cibulka, Land-Alphabete, 1983, a.a.O., S. 46–48.

51 |    Heinz Cibulka, Wien Floridsdorf + Donaustadt. Mit Texten von Heinz Cibulka, Otto Breicha, Hermann Nitsch und Carl Aigner, Wien 1988; Heinz Cibulka, Linz. Fotografische Bildgedichte. Mit einem Text von Heinz Cibulka, Ladendorf 1993; Heinz Cibulka, Antwerpen. Mit einer Einleitung von Heinz Cibulka, Antwerpen 1995; Heinz Cibulka, Napoli. N’Gopp e cient. Mit Texten von Heinz Cibulka und Kurt Kaindl, Neapel 1996; Heinz Cibulka, Ungarn. Budapest. Mit Texten von Lajos Adamik und Tbb Várnagy, Ladendorf 2009; Heinz Cibulka, Berlin. Empfindungskomplexe. Fotografische Bildgedichte (1985). Mit einem Vorwort von Heinz Cibulka, Ladendorf 2009.

52 |    »Ein vorwiegend sprachlich interpretierender Zugang ist eher kontraproduktiv, leitet die Bildinterpretation in Felder der Bildbeschreibung. Visuelle Informationen werden von bestimmter Seite dem Hirn zugeleitet, sprachliche Interpretationen werden dabei sehr leicht zu einer Art Vormund visueller Informationen.« – Heinz Cibulka, Es gibt keine Regeln, wie das Bild zu lesen ist, Interview von Adam Mazur für Fototapeta im November 2002; online abgerufen im August 2011, http://fototapeta.art.pl/2004/hcbd.php

53 |    Heinz Cibulka, Köflach [im Rahmen d. steirischen herbst, Workshopleiter zur Erkundung steirischer Krisenregionen nach der Schließung von Bergbau- und Industriebetrieben], in: Camera Austria, Nr. 28, 1988, S. 44f.; Heinz Cibulka / Wieland Schmied, Im Pechwald. Eine Dokumentation. daadgalerie, Berlin / Kulturhaus der Stadt Graz u.a., Berlin 1986 [Wiederabdruck der Bild-Text-Strecke in: Heinz Cibulka, Saft aus Sprache, 2010, a.a.O., S. 33–81]; Kurt Kaindl/ Heinz Cibulka / Harald Waitzbauer, Inner Gebirg. Wege in die Tauern. Mit Texten der Herausgeber, Edition Galerie Fotohof, Salzburg 1986; Heinz Cibulka / Kurt Kaindl, Nationalpark Hohe Tauern. Klasse Cibulka – Eine Fotodokumentation. Mit Texten von Wieland Schmied, Harald Waitzbauer, Friederike Winsauer, Heinz Cibulka, Manfred Schmalriede und Kurt Kaindl, Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg, Fotohof Salzburg 1988.

54 |    Heinz Cibulka, Aus Nachbars Garten. Mit einem Text von Edith Almhofer sowie dem Tagebuch einer Fußreise von Heinz Cibulka und seiner Familie im Jahr 1994 nach Tschechien, Gumpoldskirchen 1998; Heinz Cibulka, Chinoiserie. Mit Texten von Heinz Cibulka, Edith Almhofer und Hanno Millesi, Gumpoldskirchen 2000.


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